Beiträge des Instituts für Klassismusforschung
August 2013
Andreas Kemper
„Unterklasse“ als Korrektionsanstalt
Zur Herkunft des Begriffs underclass
In meinem Dissertationsprojekt zum Thema Klassismus greife ich diskursanalytische Aspekte auf, also Denk- und Bewertungsmuster, die klassistische Effekte haben. Eines der mächtigsten Denk- und Bewertungsmuster ist die Vertikalisierung von Klassen, Klassenfraktionen und Klassenbewegungen. Ich bezeichne dabei die topologisch zuordenden Begriffe wie Oberschicht, niedrige Herkunft, obere Zehntausend, Hochschule, sozialer Abstieg … als klassenkonstruierende Vertikalismen. Mitunter können diese Vertikalismen infernografische Züge annehmen, wie beispielsweise die Untermenschen-Ideologie des Nationalsozialismus, wo marginalisierte Gruppen als „Ausgeburten der Hölle“ (Inferno) erscheinen.
Im Rahmen dieser Untersuchung bin ich der begrifflichen Herkunft des Vertikalismus Unterklasse/ underclass nachgegangen. Hierbei zeigten sich ein paar Fehler in den bisherigen Darstellungen der Herkunft des Begriffs Unterklasse. Interessanter jedoch ist die Verbindung des Begriffs Unterklasse/ underclass mit den sogenannten Korrektionsanstalten (in Deutschland) bzw. corecctional camps (in den Vereinigten Staaten), also einer Verbindung mit Erziehungsprogrammen.
Von Underklass zu underclass?
Martin Kronauer hatte in seinem Buch Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hochentwickelten Kapitalismus die These vertreten, dass der Underclass-Begriff „seinem Ursprung nach der europäischen wohlfahrtsstaatlichen Tradition verpflichtet“ sei. (Kronauer 2010: 53) Dies gelte auch für die Vereinigten Staaten, wo Gunnar Myrdal diesen Begriff eingeführt habe: „Es ist bezeichnend, dass diese scheinbar ‚amerikanischte‘ aller Kategorien, in denen der Ausgrenzungsgedanke derzeit erörtert wird, von einem Europäer und dazu noch entschiedenen Verfechter des europäischen Wohlfahrtsstaats, dem Schweden Gunnar Myrdal, erst in den frühen 60er Jahren in die amerikanische Sprache eingeführt wurde.“ (Kronauer 2010: 53) Auch David Theo Goldberg vertritt diese These zumindest für die sozialwissenschaftliche Literatur und behauptet, dass Myrdal bereits in The American Dilemma von 1944 den Begriff Underclass benutzte. Eine Durchsicht ergab, dass Myrdal in The American Dilemma nur den Begriff Lower Class, keinesfalls aber den Begriff Underclass erwähnte – und beim Begriff Lower Class bezog er sich auf Warner/ Lunt, The Social Life of a Modern Community von 1941. Lower Class als Begriff des Stratifikationmodells war in der sozialwissenschaftlichen Literatur auch in den Vereinigten Staaten also sehr viel früher eingeführt. Allerdings dürfen die Begriffe Lower Class und Underclass nicht gleichgesetzt werden. „Low“ meint soviel wie „niedrig“. Es handelt sich auch um einen problematischen Vertikalismus, da „low“ auch soviel wie „ordinär“ heißt und das Verb „to low“ mit „muhen, blöken, brüllen“ übersetzbar ist. Es geht uns hier aber nicht einfach um einen verwandten Vertikalismus, da Unterklasse substantiviert ist, niedrig(e)re Klasse/ untere Klasse hingegen nur attributiert.
Auch Übersetzungen von Lower Class Groups mit Unterklasse, wie sie sich im Sammelband Gunnar Myrdal: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft aus der Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung von 1965 findet1, sind problematisch. Myrdal hat anscheinend in den Vereinigten Staaten erst 1965 den Begriff underclass benutzt, er bezog sich danach, laut Kronauer auf den schwedischen Literaten August Strindberg, der bereits im 19. Jahrhundert den schwedischen Begriff Underklass gebrauchte, um damit die schwedische Arbeiterklasse zu bezeichnen (Kronauer 2010: 54; siehe auch Strindberg 1970: 84ff). Gunnar Myrdal habe mit der Einführung seines Begriffs die Bedeutung verschoben. Er spreche von „an ‚underclass‘ of more permanently unemployed, employables, and underemployed“ (Myrdal 1965b: 23; zit. n. Kronauer 2010: 54).
Tatsächlich scheint aber August Strindberg nicht als einziger den Begriff Underclass benutzt zu haben.
Dies dürfte Gunnar Myrdal bekannt gewesen sein, da er häufiger für die sozialdemokratische Zeitschrift Tiden Artikel verfasste (und dort schon 1931 den Begriff Underklass benutzte), in der es bereits 1928 einen Artikel zur Herkunft der schwedischen Begriffe Underklass („Unterklasse“) und Överklass („Oberklasse“) gegeben hatte. G. H:son Holmberg untersuchte 1928 die Herkunft der schwedischen Begriffs und kam zum Schluss, dass nicht August Strindberg, sondern Nils Hermann Quiding (Pseudonyme: Nils Nilsson, arbetskarl) die Begriffe systematisch eingeführt habe (Holmberg 1928). Quiding habe damit die Teilung der Gesellschaft benennen wollen, ohne auf die veralterten Begriffe einer mit einem Rechtssystem versehenen Herren-Klasse und einer entrechteten Sklavenklasse zurückgreifen zu müssen (Holmberg 1928: 77).
Auch in den 1920er Jahren wurde in Schweden eine Klassentheorie vertreten, die den Begriff Underklass historisch für die von den Wikingern niedergeworfenen Gruppen benutzte und essentiell unterschiedliche Klassenpsychen unterstellte. Der schwedische Soziologe Pontus E. Fahlbeck vertrat in seinem Buch Die Klassen der Gesellschaft. Eine geschichtlich-soziologische Studie über Entstehung, Entwicklung und Bedeutung des Klassenwesens von 1922 eine Klassentheorie, die ihren Ausgang von „den allgemeinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen“, von „verschiedenen Seelenfunktionen (activité spirtituelle und activité practique)“, einer „organischen Auffassung des Klassenwesens“, der die „Fabel Menenius Agrippas vom Magen und den Gliedmaßen zugrunde liegt“:
„Stände und Klassen wurzeln in den allgemeinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen, die sich in verschiedenen Aufgaben objektivieren, was die Arbeitsteilung zur Folge hat. In dieser ursprünglichen Arbeitsteilung, sowie in der verschiedenen Wertschätzung körperlicher und geistiger Güter und Arbeit, die der menschlichen Psyche angeboren ist, haben wir die letzten untilgbaren Ursachen des Ständewesens zu suchen.“ (Fahlbeck 1922: 15f.)
Gunnar Myrdal brauchte also nicht auf einem Verständnis von underclass als Arbeiterklasse zu rekurrieren, um diesen dann einen neuen Sinn zu geben. Underklass als Begriff für eine entrechtete Klasse mit defizitärer Kultur stand Myrdal ebenso zur Verfügung. Zu berücksichtigen ist ferner die Nähe von Gunnar und Alva Myrdal zu sozialtechnologischen Ansätzen.
Das „schlechte Menschenmaterial“ in der Underklass
In ihrem Aufsatz Für eine bessere „Bevölkerungsqualität“. Ein Vergleich bevölkerungspolitischer Konzepte in Schweden 1920–1940 weist Ann-Judith Rabenschlag auf die Rolle von Gunnar und Alva Myrdal in der Einführung der Sterilisationsgesetze hin. Schweden hatte als einer der ersten Staaten ein rassenhygienisches Institut und arbeitete mit den Rassenhygieniker*innen in Deutschland zusammen. Die Myrdals haben diese rassenbiologischen Konzeptionen bekämpft. Gunnar Myrdals Argumentation in An American Dilemma wandte sich gegen den Rassismus gegenüber Schwarze und war relevant für die Aufhebung der Rassentrennung in us-amerikanischen Schulen in den 1950er Jahren. Allerdings immunisierte diese Kritik an einem biologisch begründeten Rassismus nicht vor klassistischen Zuschreibungen: Die schwedische Gesellschaft sei „nicht von rassischem, sondern von sozialem Abfall des Menschenmaterials bedroht“ (Myrdal/Myrdal 1931: 245 ; zit. n. Rabenschlag 2008: 60f.), heißt es in ihrem Bestseller Kris i befolkningsfrågan von 1935.
Die Myrdals traten für großzügige Sozialreformen im Rahmen einer „prophylaktischen Sozialpolitik“ ein, deren unmittelbares Ziel es sei, „ein besseres Menschenmaterial zu schaffen“ (Myrdal/Myrdal 1931: 245 ; zit. n. Rabenschlag 2008: 60f.), diese bedürfte allerdings „entsprechende Korrektive“.
Die so genannten „erschöpften Mütter“ [„The exhausted mothers“ Myrdal 1941, 214] – Frauen aus ärmeren Schichten, die oft schon mehrere Kinder geboren hatten und als unfähig galten, ihre Kinder angemessen zu erziehen – waren nicht allein aus Sicht der Myrdals die Gruppe, auf welche die Sterilisierungsgesetze vorrangig angewandt werden sollten; sie waren es auch in der Realität. Von den 60.000 Schwed*innen, die zwischen 1935 und 1975 sterilisiert wurden, waren über 90 Prozent Frauen; erfolgten die Eingriffe zunächst meist aus eugenischen Gründen, dominierte ab den fünfziger Jahren eindeutig die so genannte medizinisch-soziale Indikation: Als Sterilisierungsgrund wurde die angebliche körperliche oder psychische „Schwäche“ der Frauen angegeben.
Das von Per Albin Hansson ausgerufene Volksheim sollte, so schwebte es den Myrdals vor, ein Ort sozialer Gerechtigkeit sein; doch, wie es Alva Myrdal noch 1941 formulierte: „Großzügige Sozialreformen“ bedurften eines „entsprechenden Korrektivs“ [Myrdal 1941: 215]. (Rabenschlag 2008: 63)
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Gunnar Myrdal an die „erschöpften Mütter“ dachte, als er in den Vereinigten Staaten den Begriff underclass einführte. Von diesem Bild, welches die Praxis der Sterilisation impliziert, bis zum klassistischen Stereotyp der Welfare Queen unter der Präsidentschaft Ronald Reagans ist es jedenfalls keine großer Schritt, wenn die Notwendigkeit von Bevölkerungskorrekturen erst einmal festgestellt worden ist.
Unwürdige Kultur der Armut
Während der Begriff underclass 1963 in den Vereinigten Staaten von Gunnar Myrdal (Myrdal 1963) als Strukturbegriff eingeführt worden sein soll (Gans 1996, Pittenger 1997), sei er zehn Jahre später bereits als Begriff verwendet worden, der eine Gruppe mit vermeintlich defizitären Verhaltensweisen kennzeichne (Gans 1996, Kronauer 1996). Herbert Gans geht davon aus, dass Gunnar Myrdal nicht den Begriff underclass benutzt hätte, wenn Myrdal bewusst gewesen wäre, was dieser Begriff auslöste (Gans 1996: 141). Myrdal wolle in seinem Buch Challenge to Affluence die Situation der nicht privilegierten Klasse im Wandel zur postindustriellen Gesellschaft beschreiben (Gans 1996: 142). Mit dem Begriff underclass ging einen Zuschreibung einher, die in Europa mit dem Stereotyp der „unwürdigen Armen“, bzw. der „undeserving poor“ belegt gewesen ist. In den Vereinigten Staaten konnte sich der Begriff der „undeserving poor“ nicht durchsetzen, aber es gab entsprechende Begriffe, wie Gans 1992 feststellte:
„So sprach man von ‚Bettlern‘, ‚Paupern‘, ‚bedrohlicher Klasse‘ (‚dangerous class‘), ‚Abschaum‘ (‚rabble‘), ‚Vagabunden‘ und ‚Landstreichern‘ usw., Vokabeln, die die USA oft von den Europäern übernahmen. Allerdings haben die USA auch ihre eigenen Begriffe erfunden, so den ‚tramp‘, die ‚Richtungslosen‘ (’shiftless‘), die ‚Schwachköpfigen‘ (‚feeble minded‘) und Ende des 20. Jahrhunderts Bezeichnungen wie ‚tief verankerte, festsitzende Armut‘ (‚hard core‘), ‚kulturell Deprivierte‘, ‚Kultur der Armut‘ (‚culture of poverty‘) – und jüngst ‚underclass‘.“ (Gans 1992: 49)
Hier zeigen sich Parallelen zu Fahlbecks Underklass-Begriff aus den 1920er Jahren, zumindest im Bereich der psychisch-kulturellen Verschiedenheit der Klassen, die als unüberbrückbar wahrgenommen wurde. Die Bezeichnung „Unterklasse“/ „underclass“ für die als „unwürdige Arme“ wahrgenommene Gruppe versieht hierbei nach Gans das System der soziale Schichtung mit einem „moralischen Ethos“:
„Die unwürdigen Armen legitimieren […] auch die bestehende Hierarchie in der sozialen Schichtung. Bezeichnet man die Menschen ‚ganz unten‘ als unwürdig, dann ist automatisch jeder oberhalb von ihnen als würdig anzusehen. Damit wird das System sozialer Schichtung mit einem moralischen Ethos versehen, das seine Hierarchisierung von unten her legitimiert. Natürlich können unwürdige Arme weiterhin zu würdigen Mitgliedern der Gesellschaft werden: Sie können in dieser Hierarchie aufsteigen, etwa indem sie bereit sind, zunächst eine schlechte Beschäftigung im Niedriglohnbereich anzunehmen, z.B. als ‚Hamburg-Umdreher‘ in Schnellimbißketten.“ (Gans 1992: 53)
Christopher Jens geht davon aus, dass in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren die „liberals and radicals“ unterschiedliche Werte und Verhaltensnormen von Klassen verneinten. Was die Kultur betraf, sah die Linke sich in einer klassenlosen Gesellschaft – der mit der These der „Kultur der Armut“ einhegehende Begriff underclass wurde daher kaum genutzt (Jencks 1992: 16)
In den 1970er Jahren sei jedoch seine eigentliche Intention, mit dem Begriff underclass die Opfer einer Struktur zu beschreiben, konterkariert worden. 1973 hätten Moore, Livermore und Galland in einem Beitrag des konservativen Magazins The Public Interest begonnen, den Begriff zu transformieren. Mit dem Term underclass wurde nun vor dem Erscheinen einer gefährlichen schwarzen Klasse gewarnt. Ende der 1970er Jahre benutzten Journalist*innen diesen Begriff vorwiegend, in dem sie damit vorwiegend auf Verhaltensweisen statt auf Strukturen verwiesen. (Gans 1996: 142) 1981 wurde in drei Artikeln von Ken Auletta im New Yorker der Begriff underclass einem breiten Publikum bekannt gemacht und 1986 publizierte William Julius Wilson The Truly Disadvantaged, wo davor gewarnt wurde, dass die underclass wachse. (Jencks 1992: 143)
Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre wurde schließlich der Begriff underclass auch von Liberalen übernommen, obwohl sie begannen, das „Blaming the Victim“ im Rahmen der zugeschriebenen „Armen-Kultur“ zu kritisieren. (Jencks 1992: 17) Im Sinne der Verhaltens-Definition sei der Begriff vorwiegend von Psycholog*innen und Konservativen benutzt worden. (Gans 1996: 142f.)
Zur Kriminalanthropologie der sogenannten Unterklasse
Gegen diese These der Urheberschaft Myrdals hinsichtlich des Begriffs underclass wurde verschiedentlich eingewandt, dass dieser in den Vereinigten Staaten bereits zuvor existierte. Von verschiedenen Autoren wurde die erste Verwendung auf das Jahr 1899 datiert und als Urheber wurde der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso ausgemacht (Heise 1971, Kratz 1993, Pittenger 1997). Als Quelle wurde ein Aufsatz der Soziologin und Sozialreformerin Frances Alice Kellor von 1899 angegeben (Pittenger 1997). Sie befasste sich in diesem Aufsatz mit der Kriminalanthropologie Lombrosos (Press 2012) und nannte in einer Fußnote auch zwei Bücher Lombrosos (Kellor 1899). Beim unmittelbar darauf folgenden Zitat mit der Erwähnung des Begriffs under-class fehlte jedoch eine Quellenangabe (Kellor 1899), daher wurde bislang davon ausgegangen, dass sich Kellor auf Lombroso bezog (Pittenger 1997).
Tatsächlich fand sich jedoch in keiner Übersetzung der beiden Bücher Lombrosos auch nur annähernd das Zitat. Lombroso benutzt Klassenbegriffe, aber es lässt sich kaum ein Schema ausmachen. So unterscheidet er „Verbrecherklassen“ in ähnlicher Weise wie „Tierklassen“. Es finden sich „Deliktklassen“, die „Klasse der Gebildeten“ oder auch die „Klasse der Kriminaloiden“. Der Klassenbegriff scheint der klassifizierenden Taxonomie der Botanik entnommen worden zu sein, wie wenige Jahre später die Sozialstrukturanalyse den Schicht-Begriff aus der Geologie entlehnte. Der von Frances Alcie Kellor erwähnte Begriff „underclass“ fand sich bei Lombroso jedoch nicht. Die fehlende Fußnote führte auf eine falsche Fährte. Kellor bezog sich nicht auf den weltbekannten Theoretiker Lomobroso, sondern auf einen us-amerikanischen Praktiker der Krmininalanthropologie.
Frances Alice Kellor hatte nicht Lombroso sondern einen us-amerikanischen Mediziner zitiert: Hamilton D. Wey. Hamilton D. Wey war ein Anhänger Lombrosos (Platt 1969) und er verstand sich selber als Kriminalanthropologe. Während Lombrosos methodologische Basis sehr fragwürdig gewesen ist, sah die wissenschaftliche Grundlage der Kriminalanthropologie in den USA im 19. Jahrhundert noch dürftiger aus. Dennoch wurde Hamilton D. Wey gestattet, seine pädagogischen Vorstellungen, Methoden und Ziele experimentell mit inhaftierten Jugendlichen umzusetzen, was faktisch auf brutale Folterungen hinaus lief (Pisciotta 1994).
Der Begriff underclass bzw. under class von Hamilton findet sich in einer Ausgabe der New York Times von 1890 (The New York Times 1890), der im Online-Archiv der NYT zu finden ist. Hier heißt es u.a.:
„the great under class of criminals have more or less defective organizations, especially as relates to their nervous system, and more especially to their brain […] they are formed and fashioned by the hand of an evil genius, whose name is bad herediry, and whose handmaid is ignorance, and that they cannot be very much reformed, and that their reformation ought to have been begun in their ancestors.“ (New York Times 1890)
Obschon Wey die Möglichkeiten der „Reformation“ gering einschätzte, betrieb er eine Correctional School. Dies kann auch mit dem Lamarckismus zu tun haben, der davon ausging, dass sich erlernte Verhaltensweisen von Generation auf Generation vererben. Um Erfolge zu erzielen, müssten diese Maßnahmen dann entsprechend rigoros erscheinen.
Der Begriff underclass bekam also nicht erst in den 1970er Jahren eine abwertende Bedeutung. Vielmehr steht er in der Tradition der Zucht- und Arbeitshäuser und entstand mit dem kiminalanthropologischen Versuch, vermeintlich biologisch-vererbliche „Defekte“ mit rigorose Maßnahmen zu korrigieren. Unterklasse meint hier dann also eine Gruppe von „defekten Menschen“, die sich einer kriminalpädagogischen Maßnahme zu unterziehen haben. Unterklasse meint dann soviel wie „Zucht-“ oder „Besserungsklasse“ und wäre als kriminalpädagogischer Begriff zu verstehen.
Der Klassenbegriff der institutionalisierten Erziehung
In der Terminologie „Schulklasse“ (school class im Englischen) begegnet uns permanent der Klassenbegriff. Der Klassenbegriff spielt auch in Deutschland in der institutionalisierten Erziehung eine Rolle. So richteten sich Hegel propädeutische Schriften von 1808 bis 1811an die Unter-, Mittel- und Oberklassen in den Gymnasium. Erzogen wurde jedoch nicht nur in Schulen für Kinder wohlhabender Eltern, sondern zunehmend auch in den sogenannten Korrektionsanstalten:
„Die Wurzeln des Gefängnisses als Disziplinaranstalt finden sich bereits in den frühneuzeitlichen Zucht- und Arbeitshäusern, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts in europäischen Städten entstanden. Sie waren ursprünglich nicht dazu gedacht, verurteilte Delinquenten zu inhaftieren, sondern zunächst vor allem für ‚Vagabunden‘ und Bettler vorgesehen. Die Anstalten waren das Produkt eines sich seit dem Spätmittelalter wandelnden Armutsverständnisses und einer damit einhergehenden veränderten Fürsorgepraxis. Zu den sogenannten Müßiggängern kamen nach und nach ‚ungezogene‘ Kinder oder von ihren Familien abgeschobene, unerwünschte Personen, Prostituierte, Geisteskranke und Waisen hinzu. Diese geschlossenen Einrichtungen entwickelten sich zu einem Universalmittel für den Umgang mit Devianz und gesellschaftlichen Minderheiten.“ (Schauz 2008: 39f.)
Auch in diesen Erziehungsstrafanstalten wurden Stufen- bzw. Klassensysteme eingeführt. In Sachsen tauchte bereits 1849 die Einteilung in Zucht-, Mittel- und Besserungsklasse auf (Kruse 2003: 6f). Später kam die Einteilung Unter-, Mittel- und Oberklasse hinzu (ebd.).
Der Begriff der Unterklasse wird also seine Wurzeln auch in der Bezeichnung für eine vermeintlich renitente und daher mit repressiven Maßnahmen zu erziehende/ korrigierende Gruppe haben.
Literatur:
-
Gans, Herbert J. (1996): From ‘Underclass’ to ‘Undercaste’: Some Observations About the Future of the Post-Industrial Economy and its Major Victims, in Urban Poverty and the Underclass (edited by Enzo Mingione). Cambridge, MA: Blackwell Publishers. pp. 141–152
-
Heise, Thomas (1971): Urban underworlds: a geography of twentieth-century American literature and culture, New Brunswick
-
Jencks, Christopher (1992): Rethinking Social Policy. Race, Poverty, and the Underclass, Cambridge/ London
-
Katz, Michael Barry (Hrsg.) (1993): The „Underclass“ Debate: Views from History, New Jersey
-
Kellor, Frances Allice (1899): Criminal Anthropology in its Relation to Criminal Jurisprudence I, in: The American Journal of Sociology, Volume 4, 1899
-
Kronauer, Martin (1996): „Soziale Ausgrenzung“ und „Underclass“: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung, in: „Soziale Ausgrenzung“ SOFI-Mitteilungen Nr. 24/1996
-
Kruse, Hans-Joachim (2003): Zur Geschichte des Bremer Gefängniswesens. Band II (Das Bremer Gefängniswesen in der Weimarer Republik), Norderstedt
-
Lombroso, Cesare (1894): Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, Hamburg
-
Myrdal, Alva/ Myrdal, Gunnar (1935): Kris i befolkningsfrågan, Stockholm
-
Myrdal, Alva (1941): Nation and Family. The Swedish Experiment in Democratic Family and Population Policy. Cambridge/London
-
Myrdal, Gunnar (1931): Socialism eller kapitalism i framtidens Amerika, in: Tiden Nr 4, vom 27. 03. 1931
-
Myrdal, Gunnar (1963): Challenge to Affluence, New York
-
Pisciotta, Alexander (1994): Benevolent Repression: Social Control and the American Reformatory-Prison Movement, New York
-
Pittenger, Mark (1997): A World of Difference: Constructing the „Underclass“ in Progressive America, in: American Quarterly 49.1 (1997) 26-65
-
Platt, Anthony (1969): The Rise of the Child-Saving Movement: A Study in social Policy and Correctional Reform, in: Annals of the American Academy of Politcal and Social Science, Vol. 381, The Future of Corrections (Jan., 1969), 21-38.
-
Press, John (2012): Frances Alices Kellor, in: glbtq. an encyclopedia of gay, lesbian, bisexual, transgender and queer-culture, Online: http://www.glbtq.com/social-sciences/kellor_frances_alice.html (z.a. 07.06.2013)
-
Rabenschlag, Ann-Judith (2008): Für eine bessere „Bevölkerungsqualität“. Ein Vergleich bevölkerungspolitischer Konzepte in Schweden 1920–1940, in: NORDEUROPA forum, 1/2008, S. 47-67
-
Schautz, Désirée (2008): Strafen als moralische Besserung: eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777-1933, München
-
The New York Times (1890): Criminal Anthropology. Dr. Hamilton D. Wey Before the National Prison Association, in: The New York Times vom 01.10. 1890, Online: http://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=F10614F63B5F10738DDDA80894D8415B8085F0D3 (z.a. 07.06.2013)
1Im Original heißt es „Relationsships between Lower Class Groups“ (Myrdal 1944: 67), in der deutschen Ausgabe ist diese Überschrift wiedergegeben mit „Beziehungen zwischen Gruppen der Unterklasse“ (Myrdal 1965: 188)